- Weltkrieg, Erster: Die soziale Dimension des Krieges
- Weltkrieg, Erster: Die soziale Dimension des KriegesDie Mobilisierung aller wirtschaftlichen Ressourcen für den KriegFinanziert wurde der Erste Weltkrieg durch Kriegsanleihen und Inflation, was eine immense Verschuldung und den Ruf nach Wiedergutmachung durch Deutschland, den besiegten Feind, nach sich zog; nur die USA, die als Einzige in ihrer wirtschaftlichen Substanz nicht getroffen waren, hängten bei der Entfaltung ihres Potenzials als wirtschaftliche Vormacht Europa endgültig ab und schlossen sich dem Ruf nach Reparationen nicht an. Die Rüstungsindustrien expandierten angesichts des unersättlichen Bedarfs an Kriegsgütern; in Russland waren schließlich über 70 Prozent der Arbeiter in diesem Bereich tätig. Rüstungsmagnaten wie Krupp in Deutschland, Vickers in Großbritannien oder Sacharow in Russland gewannen immensen Einfluss. Dennoch sanken selbst in protegierten Bereichen die Produktionsraten und deckten den Bedarf nicht, da Arbeitskräfte und Rohstoffe knapp waren. Die kostspieligen Rüstungsprodukte wurden — kaum fertig gestellt — umgehend im wahrsten Sinne des Wortes verpulvert. Krass war zudem der Produktionsrückgang der Konsumgüterindustrie und noch mehr der der Landwirtschaft. Hier gab es in Deutschland Einbußen bis zu 70 Prozent. Ferner machte sich der Zusammenbruch des internationalen Handels empfindlich bemerkbar, und schließlich war durch die Konzentration auf die Rüstung das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage und damit das Preisgefüge gestört. Staatliche Regulierungen mit großen Härten waren die Folge, die wiederum Wucher und Schwarzmarktgeschäfte nach sich zogen. Später wurden selbst industrielle Nutznießer des Kriegssystems, die im Ruf eines strammen Nationalismus standen, als Lieferanten an den Feind enttarnt. So stammte der Zement der Unterstände in deutschen Frontbefestigungen weitgehend aus Großbritannien, bezogen Franzosen und Italiener in Deutschland hergestellte Munition, und über das neutrale Ausland gelangten die in allen Schützengräben beliebten deutschen Mundharmonikas auch zu den Alliierten.Die Staatsführungen griffen ein, um Rohstoffe zuzuteilen und kriegswichtige Betriebe bei vorgegebenen Produktionsziffern zu fördern sowie um Arbeitskräfte aus der Bevölkerung zu rekrutieren und zu verteilen. Aufgebaut wurde ein »Staatssozialismus« mit unterschiedlichem Grad der Militarisierung, wobei der Staat teilweise als Besitzer selbst Lenkungsfunktionen übernahm, teilweise eher indirekt operierte. Das liberale Großbritannien ging auf diesem Weg voran, die USA zögerten bei Kriegsantritt nicht, sich anzuschließen. In Deutschland war durch die See- und Wirtschaftsblockade der Zwang zur Rationalisierung besonders groß, und findige Wissenschaftler und Techniker leisteten vor allem in der Chemie Erstaunliches, als sie improvisiert Ersatzstoffe schufen. Früh kontrollierte und verteilte eine Kriegsrohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium, die mit der Privatwirtschaft verzahnt war, die Ressourcen. Deren Urheber Walther Rathenau und Wichard von Moellendorff dachten über den Krieg hinaus und wollten die traditionell liberale Marktwirtschaft in eine »Gemeinwirtschaft« umwandeln, die — der Wohlfahrt der Bürger verpflichtet und auf ihrer Solidarität basierend — bei staatlicher Kontrolle den einzelnen Wirtschaftszweigen die Leitung übertrug. 1916 setzten sich im Deutschen Reich mit Hindenburgprogramm und Hilfsdienstgesetz die Tendenzen zur Totalisierung des Krieges durch, als staatliche Vorgaben die Anforderungen des Militärs befriedigen und die Arbeitskräfte verteilen sollten. Dirigistisch behandelt und vielfach schikaniert wurden auch Einzelhändler und Bauern; allerdings gab es hier auch Bereicherungen. In Deutschland grassierte der Hunger, Unterernährung gab es nur in den meeroffenen Weststaaten nicht. Reglementierungen grenzten die Not zwar ein, produzierten aber auch geradezu schreiende Ungerechtigkeiten. Als Folge wurde vielfach der »Sozialismus« diskreditiert.Soziale FolgenDie — in immer jüngerem Alter einrückenden — Frontsoldaten stellten besonders in Deutschland, Frankreich und Italien ein Sonderproblem dar. Das erbarmungswürdige Leben und massenhafte Sterben in Schützengräben unter Artilleriefeuer und todbringenden Offensiven ohne Sinn machten sie zur eigentlichen Klasse der Opfer, mit einem spezifischen Zusammengehörigkeitsgefühl, das vielfach mit der Bezeichnung »Kriegssozialismus« umschrieben wurde. Ständig konfrontiert mit den privilegierten Kameraden im Hinterland, erschütterten sie die kurzen Heimaturlaube. Tod und Elend für einen Moment entronnen, sahen schockierte französische Soldaten herausgeputzte Spaziergänger im Bois de Boulogne, die über Zuckerkarten jammerten, sie hörten irritiert Reden von Hurrapatrioten oder Pazifisten und stießen auf Kriegsgewinnler. Die Frontsoldaten, unter denen die Klassenschranken gefallen waren, fühlten sich daher als Gemeinschaft, die irgendwie das »Eigentliche« in Staat und Gesellschaft darstellte, aber gleichwohl verraten, betrogen und vergessen war. Man hielt dennoch »für das Vaterland« durch und bewahrte das Zusammengehörigkeitsgefühl über das Kriegsende 1918 hinaus.Zentrale Kriegsgewinnler waren Inhaber kriegswichtiger Industriebetriebe wie die Eisen- und Stahlbarone. Die saftigsten Profite strich die Ölbranche in den USA und Großbritannien ein. Daneben gab es große und kleine Wucherer und »Parasiten« unterschiedlichster Art. In Deutschland sah man Tendenzen, Juden in die Reihe von Drückebergern und Nutznießern einzureihen, obwohl sie sich durch ihre Kriegsteilnahme in den Staat zu integrieren suchten. Besonders schlimm war eine zwar getarnte, gleichwohl diffamierende »Judenzählung« im Heer. Bei den Bauern hingegen, die sich entschuldeten, anders als die Städter nicht hungerten und Geld hatten, lag eine Diffamierung als Kriegsgewinnler nahe, doch zählten sie nicht zu diesen. Ihrer Kaufkraft stand kein Angebot gegenüber, sie arbeiteten unter schwersten Bedingungen, und ihre Söhne stellten das größte Kontingent der Gefallenen. Sie fühlten sich von Bürokratie und staatlicher Zwangswirtschaft geknebelt. In Deutschland tendierten sie politisch prompt nach rechts wie auch Teile des Mittelstands, der verarmte und sozial deklassiert wurde. Handwerkerbetriebe und ganze kriegsunwichtige Branchen standen vor dem Ruin. Auch die Empfänger von festen, immer wertloseren Gehältern hatten wie diejenigen, die von Rente oder Kapital lebten, früh keine Chance mehr, sich Lebenswichtiges auf dem Schwarzmarkt zu besorgen. Sie hatten vielfach ihre Söhne als Freiwillige in den Krieg geschickt und diesen mit Spenden mitfinanziert. Jetzt empörten sie sich über ihre Proletarisierung. Selbst die Facharbeiter der Kriegsindustrie klagten ungeachtet kräftiger Lohnerhöhung ab 1916 über ihre soziale Lage. Die verbliebenen Landarbeiter hatten zwar zu essen, waren aber überbelastet, sie konnten sich nicht durch Streiks wehren und meldeten sich vielfach krank. Auf der anderen Seite der Skala standen Kriegsgefangene, die — kaum entlohnt, aber immerhin nach internationalen Konventionen behandelt — auf die Löhne drückten, und Fremdarbeiter, die vor allem in Frankreich, Russland und Deutschland eingesetzt wurden. Auch rückten Frauen und Jugendliche in großer Zahl in Fabriken ein und erhielten Hungerlöhne.Die Sozialistische Internationale zerbrichtVor diesem Hintergrund interessiert das Verhalten der großen Arbeiterorganisationen. Wieso versagte in der Julikrise 1914 die anscheinend so mächtige Sozialistische Internationale, besonders deren starke Achse, die SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) im Deutschen Reich und die SFIO (Section Française de l'Internationale Ouvrière) in Frankreich? Die Beteuerungen der jeweiligen Regierungen, dass ein Angriff von außen drohe, vermittelten auch den Sozialisten das Gefühl einer dominierenden nationalen Bedrohung. Anfangs rechtfertigte man sich noch, dass eine Abwehr der zaristischen Despotie bzw. des deutschen Feudalismus und Imperialismus nötig sei, bald jedoch geriet man voll in den nationalistischen Strudel. Es zeigte sich, dass die Sozialisten selbst im Kaiserreich, in dem die SPD scharf ausgegrenzt war, etwas zu verlieren hatten und wieweit die nationale Integration der Internationalisten fortgeschritten war. Fortan sahen Sozialisten den Krieg als Chance, Gleichberechtigung und soziale Errungenschaften voranzutreiben. Hierauf bauend bewilligten sie die Kriegskredite anfangs einheitlich, später mehrheitlich. Auf der anderen Seite fühlte sich die Reichsleitung in Deutschland an ihr Versprechen einer politischen Neuorientierung mit Respektierung der Arbeiterschaft in Staat und Nation gebunden. Die SPD honorierte diese Haltung und hatte, ungeachtet immer neuer Verzögerungen bei politischen Reformen, größte Geduld. Während in Frankreich schon 1914 die Sozialisten Marcel Sembat und Jules Guesde in die Regierung eintraten, begann der mühsame Weg der SPD in die Regierungsämter erst 1917, allerdings unter dem Opfer der Spaltung der Partei. Eine oppositionelle Richtung gegen die »Sozialpatrioten« war mächtig angewachsen. Benannt nach ihrem Tagungsort Zimmerwald (Schweiz) 1915, gehörten zu dieser Zimmerwalder Bewegung vor allem Pazifisten, die im Krieg nur noch ein imperialistisches Ringen um Annexionen sahen. Sie betrieben 1917 die Abspaltung der USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) von der SPD, die dann MSPD (Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands) genannt wurde, und zwangen als Minoritaire die SFIO zum Rückzug ihrer Minister aus der Regierung.Warum gingen Sozialisten allenfalls als Pazifisten und nur selten als Sozialrevolutionäre in Opposition, warum plagten sich entkräftete Arbeiter für die Fortsetzung eines Krieges, dessen Sinn im Dunkeln lag? Hinweise auf Belagerungszustand und nationale Propaganda erklären wenig. Bedeutsamer für das Durchhalten waren sozialpolitische Fortschritte, keineswegs nur Lohnerhöhungen, und diese rücken das Wirken der Gewerkschaften ins Blickfeld. Das Beispiel Deutschland, wo die sozialen Erfolge am breitesten waren, zeigt das Spektrum und den Trend der Entwicklungen. Wie alle Berufsverbände stellten sich 1914 die Gewerkschaften mit ihren mehr als zwei Millionen Mitgliedern in den Dienst des Krieges, und die Regierung honorierte dies mit Aufträgen und faktischer Anerkennung. Unter Verzicht auf Kampfmaßnahmen erlangten die Gewerkschaften neue Möglichkeiten zur Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen, besetzten leitende Stellen in Reichszentralbehörden und erzielten 1916 im Rahmen des Hilfsdienstgesetzes einen bahnbrechenden Erfolg.Sozialpolitische ErrungenschaftenAuch in der deutschen Führung setzte sich endgültig die Auffassung durch, dass der Krieg nicht in Gegnerschaft zu der Arbeiterschaft zu gewinnen sei. Pikant war dabei, dass die keineswegs arbeitnehmerfreundliche 3. Oberste Heeresleitung zum Schrecken der Schwerindustrie darauf drang, dass ein ordentliches Gesetz über den Hilfsdienst mit Zustimmung von Reichstag und Parteien zustande kam. Die paritätische Mitbestimmung wurde generell eingeführt. Obligatorische Arbeiterausschüsse hielten Einzug in Großbetriebe. Fortan gab es ein fortschrittliches kollektives Arbeitsrecht mit Streikrecht und einem Schlichtungsverfahren, das auf eine hoheitliche Zwangsschlichtung hinauslief. Die Oberste Heeresleitung wollte den Reichstag als Akklamationsorgan ködern. Nicht eingeplant hatte sie dagegen, dass eine Gewerkschaftsachse der Parteien die »Nebenbestimmungen« des »Vaterländischen Hilfsdienstgesetzes« derart ausbaute, dass eine dauerhafte Modernisierung des Sozialrechts herauskam. Für die Arbeiter stand seitdem auf dem sozialen Sektor viel auf dem Spiel, zumal im Weltkrieg mit Ausnahme des Achtstundentags all jene sozialpolitischen Grundlagen geschaffen wurden, auf denen die Weimarer Republik ruhen sollte: Arbeitslosen-, Kurzarbeiter- und Kindergeld, Arbeitsvermittlung und faktisch auch ein Mindestlohn. Solche Erfolge ließen Gewerkschaften und SPD in erhebliche Distanz zu traditionellen Sozialismusideen treten und erklären die Nähe zu den zeitgenössisch umlaufenden Ideen von einem Staatssozialismus oder einer Gemeinwirtschaft. Letztendlich gab es somit einen sozialpolitisch begründeten, informellen Pakt der Gewerkschaften und damit auch der SPD mit der Regierung.Allerdings gab es auch bedeutende Streiks, die 1915 überall auf dem Kontinent einsetzten und 1917 in Hungeraufstände, Meutereien und Rebellionen einmündeten. Streikende Petrograder Frauen lösten die Februarrevolution aus. Die Not war hier, wo Kinder im Elfstundentakt arbeiteten und vielfach verunglückten, am schreiendsten. Schon bei den Truppentransporten 1917 von Ost nach West waren Soldaten in Scharen »abhanden« gekommen. Nach der gescheiterten Frühjahrsoffensive 1918 schwoll die Zahl der »Drückeberger« auf bis zu einer Million Soldaten an. Die italienische Armee sah ähnliche Phänomene. In Großbritannien zeugten zunehmende Streiks von einer anwachsenden Opposition gegen Gewerkschaften und mehr noch gegen die Regierung, die am nationalen Kriegskurs festhielt. Anders lagen die Dinge in Frankreich, wo im April 1917 große Meutereien ausbrachen. Ursache war hier die Verzweiflung der Soldaten angesichts einer Häufung von Offensiven, die Menschen verachtend nur Tod, aber keinen militärischen Nutzen brachten. 49 vollstreckte von 554 ausgesprochenen Todesurteilen der Kriegsgerichte waren die Folge, aber auch der Übergang zu einer »sinnvolleren« Kriegführung.Die Streiks in Deutschland vom April 1917 und Januar 1918 waren durch die Not und die Überforderung der Menschen bedingt, Beweggrund war aber auch der Wunsch nach einem raschen Frieden. Die Militärs hatten die Arbeiterausschüsse von Beginn an auch als Bollwerk gegen Streiks und dementsprechend als Frühwarnsystem angesehen. Und in der Tat handelten Gewerkschaftler bisweilen als Agenten der Staatsführung. Doch in den Arbeiterausschüssen fand auch die oppositionelle Linke zusammen, schuf die USPD sich ihren Sockel und agierten sozialrevolutionäre Spartakisten sowie revolutionäre Obleute. Beim großen Ausstand der Munitionsarbeiter exponierten sich Parteiführer der SPD wie Friedrich Ebert in der Streikleitung, um dem Kampf ein schnelles Ende zu bereiten. Letztendlich hatten sie Erfolg, und die Oppositionellen erlitten eine empfindliche Niederlage. Im Herbst 1918 verschob sich das Kräfteverhältnis anlässlich eines Flottenaufstands in Kiel. Aus ihm entwickelte sich nämlich am 9. November eine erfolgreiche Revolution in Deutschland, mit Arbeiter- und Soldatenräten nach sowjetischem Vorbild; das kaiserliche Regime wurde beseitigt. Die linke Opposition gewann erhebliches Gewicht; vor dem Hintergrund der allgemeinen Forderung nach Frieden und Brot fand aber immer noch eine Mehrheit von Reformpolitikern zusammen, die erfolgreich jene Koalition von Demokraten bildete, die — auf erhebliche Teile der Arbeiter, Bürger und Bauern gestützt — für eine dann nur allzu kurze Zeit das Fundament der Weimarer Republik darstellte.Prof. Dr. Günter WollsteinWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Weltkrieg, Erster: Sieger und BesiegteGrundlegende Informationen finden Sie unter:Weltkrieg, Erster: Die politische Dimension des KriegesFeldman, Gerald D.: Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918. Aus dem Englischen. Berlin u. a. 1985.The French home front, 1914-1918, herausgegeben von Patrick Fridenson. Aus dem Französischen. Oxford 1992.Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, herausgegeben von Gerhard Hirschfeld u. a. Essen 1997.
Universal-Lexikon. 2012.